Südkoreanische Kaffekultur
18.07.2023 Story

Zeit für einen Kaffee: Südkoreas entschleunigte Kaffeekultur

Die Wirkung von Koffein ist universell. Aber Kaffeekultur ist immer vor allem ein lokales Phänomen. In Südkorea hat Kaffee eine ganz besondere Bedeutung – für ein entschleunigtes, soziales Miteinander.

Die neuen Gourmets 

Das Coffee Quality Institute, eine Non-Profit-Organisation mit Sitz in Kalifornien, vergibt seit 1996 Zertifikate für sogenannte Q-Grader – in der internationalen Welt des Kaffees hochgeschätzte Geschmacksexperten. Sie sind so etwas wie die Sommeliers der Kaffeeszene. Weltweit gibt es ungefähr 5 000 von ihnen, mehr als die Hälfte lebt in Südkorea. 

Eine von ihnen ist Jooyeon Jeon. 2019 gewann die junge Frau die prestigeträchtige World Barista Championship. Seitdem ruht der Blick der internationalen Kaffeegemeinde auch auf Jooyeons Heimatort, der Hafenstadt Busan, die sonst eher im Schatten des glitzernden Nachbarn Seoul steht. 

„Busan ist die zweitgrößte Stadt Koreas“, erzählt sie. „Hier gibt es Berge und Meer – viele Menschen verbringen hier ihre Ferien.“ Als Chefbarista und CEO der Rösterei Momos Coffee begeistert Jooyeon Gäste mit ihrem reichen Kaffeewissen – von der Chemie bis zum Service. 

Momos Coffee existiert seit 2007. Unser Leitspruch ist: Spezialität für alle.

Barista-Utensilien
Eiskaffee

„Momos Coffee existiert seit 2007. Unser Leitspruch ist: Spezialität für alle. Wir möchten, dass jeder Mensch hochqualitative Kaffeespezialitäten genießen kann.“ Jooyeon ist sich der entschleunigenden Kraft einer Tasse Kaffee bewusst – dies ist Teil des Konzepts bei Momos Coffee. „Wir möchten durch Kaffee besondere Momente teilen und ein Stück Exklusivität in den Alltag der Menschen bringen.“ In der Rösterei von Momos Coffee, einem von zwei Läden des Unternehmens, können Gäste hautnah verfolgen, mit welcher Sorgfalt und in welchen Arbeitsschritten eine gute Tasse Kaffee entsteht. 

Als Kaffee in Korea ankam, wussten die Menschen nicht, wie sie ihn trinken sollten. Er war zu stark, zu bitter. Man trank ihn wie einen Likör – als Shot in kleinen Gläsern. Erst die Ankunft von US-Truppen im Koreanischen Krieg brachte die Halbinsel auf den Geschmack … von Instantkaffee. 1976 revolutionierte der Hersteller Dongsuh Foods mit kleinen Drei-in-eins-Tütchen den Markt. Kaffee, Zucker und Milchpulver in einem. Die Süße ersetzte die Bitterkeit und fand in der Bevölkerung Anklang. Ein sofortiger Hit – daran erinnert sich auch Jooyeon. „Mein erster Kaffee war Instantkaffee mit Milch, gleich zum Wachwerden. Er war süß und trocken im Geschmack – eine schöne Erinnerung.“ 

Bereits wenige Jahre später war Südkorea der weltweit größte Konsument von Instantkaffee. Bis heute ist Instantkaffee das heimliche Nationalgetränk Südkoreas. Auch 2018 noch gab mehr als ein Drittel aller Südkoreaner an, mindestens einmal am Tag Instantkaffee zu trinken.

Momos Coffee Lab
Barista-Profi Jeeyoen

Dabangs und der Beginn der koreanischen Kaffeekultur

Die ersten richtigen Cafés waren die Dabangs, noch bevor die westliche Kaffeekultur Einzug in Korea hielt. Der Begriff Dabang, zusammengesetzt aus den Wörtern „Tee“ (da, 다) und „Raum“ (bang, 방), verweist zugleich auf einen sozialen Ort. Hier wurden nicht nur Getränke konsumiert. Auch die künstlerische und literarische Szene traf sich hier, diskutierte und netzwerkte. Tatsächlich entstand ein Großteil der koreanischen Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Dabangs. Trotz der Tatsache, dass sie „Tee“ im Namen tragen, waren sie der Ausgangspunkt der koreanischen Kaffeekultur. „Korea gilt bei manchen Menschen als Teenation, aber das trifft viel mehr auf China oder Japan zu.“ Kaffee sei universell, betont Jooyeon. „Die meisten Menschen auf der Welt trinken mindestens eine Tasse Kaffee am Tag – daher hat Kaffeekultur eine hohe Zugänglichkeit und bringt Menschen zusammen, über kulturelle Grenzen hinweg.“ 

In den wilden 70er- und 80er-Jahren öffneten sich die elitären Kreise. Dabangs wurden zu wahren Social-Hotspots für die gesamte Bevölkerung. Essen mit der Familie, Geschäftsmeetings, Drinks mit Freunden, das erste Date oder Musik – alles fand hier statt. Einige der Kaffeehäuser trugen daher auch „Yaksok“ (약속) im Namen, das Wort für „Termin“. Die Cafés waren erste Anlaufstelle, Dreh- und Angelpunkt des Lebens in Südkorea. Neben der Abwesenheit von Smartphones und dem Internet half auch, dass viele junge Menschen in Korea lange bei ihren Eltern wohnen. Ein Café ersetzte Jugendclub, Disco, Marktplatz, Chatgruppe und Social-Media-Feed.

Die aufkommende Ära der Automatenbistros und Lieferdienste beendete die vorherrschende Präsenz der klassischen Dabangs im Stadtbild. In den späten 90ern fluteten außerdem internationale Ketten das Land mit Take-out-Kaffee. Seoul hat heute mehr Starbucks-Filialen als jede andere Stadt auf der Welt. 

Bei Momos Coffee sucht man vergeblich nach Strohhalmen oder Deckeln für seinen Iced Coffee. Im Kontrast zu einer Kette wie Starbucks setzen Jooyeon und ihr Team auf den Wert von nachhaltigem, stilvollem und entschleunigtem Kaffeegenuss. Die Kreationen werden bewusst in flachen Bechern und Gläsern serviert, ähnlich wie ein wertvoller Whiskey. „Wir wollen das Erlebnis von hochqualitativem Kaffee mit Menschen teilen“, betont Jooyeon. „Wir sprechen oft über Aspekte der Nachhaltigkeit und wollen, dass alle etwas davon haben: die Kaffeebauern, die Hersteller und die Konsumenten.“

Eskapismus und Milchschaum

Kaffee in Korea ist kein Getränk. Es ist ein Erlebnis. Im modernen Südkorea gibt es Cafés für jeden Geschmack – immer noch ganz nach dem Vorbild der ersten Dabangs. „Koreas Kaffeekultur ist Cafékultur“, erzählt Jooyeon. „Beinahe wichtiger als der Kaffee selbst ist der Raum, in dem man sich trifft, um ihn zu trinken.“ 

Die Lokale sind so vielfältig wie die Menschen. Um sich in der hohen Cafédichte eng besiedelter Metropolen wie Seoul, Busan oder Incheon abzusetzen, lassen sich Betreiber so einiges einfallen. So gibt es Themencafés zu Harry Potter, Marvel, der Sesamstraße oder Matilda (ja, dem Klassiker von Roald Dahl) – und natürlich endlose Tierthemen: Katzen, Igel, Hasen, Bären … Selbstverständlich haben diese Themencafés weit mehr als die typischen Americanos und Macchiatos im Angebot. Bunte und kalorienreiche Eigenkreationen machen aus dem Kaffeetrinken ein Erlebnis, das bewusst alle Sinne anspricht und dazu einlädt, den hektischen Alltag, aber auch die Realität für einen Moment zu verlassen. 

Bei Momos Coffee wird statt pinkem Sirup oder bunten Streuseln weiterhin auf exquisite und stilvolle Eigenkreationen gesetzt. Klassischer Iced Coffee steht hier wie auf vielen koreanischen Kaffeemenüs immer hoch im Kurs. Jooyeon selbst würde sicher einen langsam von Hand aufgegossenen äthiopischen Filterkaffee empfehlen, der sich durch blumige und fruchtige Noten auszeichnet.

Ob süß und bunt oder klassisch und exklusiv – Kaffee wird in Korea immer Botschafter für bewussten Zeitgenuss sein. Und der kann so vielfältig sein wie wir Menschen. Die Zutaten sind frei wählbar: Buch in der Hand, Katze auf dem Schoß, Freunde mit Plänen für den Abend, Livemusik oder einfach Appetit auf eine Tasse Zeit.

Text: David Lütke, Fotos: texture on texture